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Title
Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945–1990


Author(s)
Settele, Veronika
Series
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Published
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
394 S.
Price
€ 65,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Juri Auderset, Departement für Zeitgeschichte, Universität Fribourg / Archiv für Agrargeschichte, Bern

Der Stall gehört nicht gerade zu jenen Orten, an denen sich Historiker/innen gegenseitig auf den Füßen stehen würden, um ihrer Aufgabe nachzugehen, den Wandel der Dinge in der Zeit zu studieren. Die konkreten lebens- und arbeitsweltlichen Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion des 20. Jahrhunderts verschwinden oft hinter den auch in der Historiographie beliebten stereotypen Formeln des „Strukturwandels“ oder des ökonomischen und sozialen „Niedergangs“ der Landwirtschaft, der freilich nur die Kehrseite der erstaunlichen Produktivitätssprünge in der Agrarproduktion der Nachkriegszeit darstellt. Sowohl das Narrativ der Niedergangsgeschichte als auch jenes des historisch beispiellosen Produktivitätswachstums verstellt indes den Blick auf die konkreten Veränderungen der landwirtschaftlichen Betriebe und auf deren Integration in die Industriegesellschaften der Moderne. Denn was bedeutet es eigentlich für eine Gesellschaft, wenn immer weniger Menschen auf einer schrumpfenden landwirtschaftlichen Nutzfläche immer mehr Tiere halten, die mit zunehmend hoffremden Futtermitteln und Hilfsstoffen versorgt und zu immer günstigeren Preisen an eine Käuferschaft abgesetzt werden, die ihrerseits vom Geschehen auf den Höfen und in den Ställen kaum mehr etwas weiß und oft auch nichts wissen will, sondern lieber im Supermarkt das Fleisch unter Zellophan verpackt einkauft, wo es scheinbar von jeglicher Verbindung zu den ambivalenten Erfahrungen gekappt ist, die mit der Re-Produktion, der Nutzung von Tieren und ihrem Töten einhergehen? Die anonymisierende Rede von Strukturwandel und Produktivität lässt nicht nur die spannungsreichen Erfahrungswelten der Bäuerinnen und Bauern hinter einem Schleier der Nichtbeachtung verschwinden. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher sie in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist, verrät vielleicht auch etwas über den Entfremdungsprozess, der sich zwischen der Produktion und dem Konsum von Nahrungsmitteln breitgemacht hat.

Die Veröffentlichung von Veronika Setteles Buch ist angesichts dieser Entwicklungen ein höchst willkommenes Ereignis. Ihre an der Freien Universität Berlin entstandene Dissertation rekonstruiert auf der Basis eines beachtlichen Quellenkorpus die Etablierung der Massentierhaltung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Diesem politisch hochgradig aufgeladenen Thema nähert sich die Autorin mit einer bemerkenswert sachlichen, offenen und interessierten Herangehensweise. Setteles Studie erinnert uns zudem daran, dass die landwirtschaftlichen Nutztiere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar immer mehr aus den Lebens- und Erfahrungswelten der wachsenden nicht-landwirtschaftlichen Bevölkerung verdrängt wurden, dass sie aber nicht einfach verschwanden. In der angeblich post-industriellen Gesellschaft sind sie so zahlreich wie noch nie – und doch sind sie einem Großteil der Bevölkerung vielleicht auch so fremd wie noch nie.

Settele untersucht die Entwicklungen der industrialisierten Massentierhaltung in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR ausgehend von der, wie sie es nennt, „kontraintuitiven“ Beobachtung, dass die „Ähnlichkeiten im Stall 1990 in West- und Ostdeutschland, nach vierzig Jahren Systemkonkurrenz und unterschiedlicher politischer Überformung, dominierten“ (S. 14). Um diesen Befund historisch zu erklären, analysiert sie die Entstehung und Durchsetzung landwirtschaftlicher Massentierhaltung in Deutschland entlang von drei Sichtachsen, die zugleich die drei Hauptteile des Buches bilden. Erstens geht es darum, wie bioökonomische und medizinische Praktiken die Körper der Tiere veränderten. Zweitens interessiert sich die Autorin dafür, wie Tiere in ein neuartiges betriebswirtschaftliches Denken integriert wurden. Drittens untersucht sie die Veränderungen des Mensch-Tier-Verhältnisses durch die Technisierung der Ställe. In allen drei Perspektiven bemüht sich Settele um eine auf das Geschehen in den Ställen fokussierende praxeologische Rekonstruktion, die der Lebendigkeit der Tiere als ökonomischem Potenzial und Quelle von betriebswirtschaftlichen Unwägbarkeiten Rechnung trägt. Zudem fragt sie nach den Rückwirkungen dieses Wandels der Tierhaltung auf die Gesellschaft, in welcher angesichts der „Revolution im Stall“ wirtschaftliche Wachstumseuphorie und essenskulturelles Unbehagen in zuweilen irritierende Mischverhältnisse gerieten.

Im ersten Teil untersucht die Autorin am Beispiel der Rinderhaltung, wie die Körper der Tiere zu Objekten einer menschlichen Intervention wurden, die auf monofunktionale „Leistungsoptimierung“ ausgerichtet war. Indem Rinder als Arbeitstiere ersetzt und zusehends als Fleisch- oder Milchlieferanten betrachtet wurden, gerieten das Füttern der Rinder, das Melken der Kühe und die Organisation ihrer Reproduktion unter ein neuartiges Regime von quantifizierbaren Registrierungs- und Kontrolltechniken. Tierernährungswissenschaftler, Veterinärmediziner, Besamungstechniker, Tierzüchter und Betriebsberater trugen ihre von der Faszination industriellen Fortschritts geprägten Leitbilder in die Ställe; sie nutzten Filme, Ausstellungen und landwirtschaftliche Fachzeitschriften, um die Praktiken der Rinderhaltung im Sinne einer Produktivitätssteigerung zu effektivieren. Der optimale Wirkungsgrad und die Zusammensetzung des Futters wurde dabei ebenso zum Gegenstand wissenschaftlicher Expertise und betriebswirtschaftlicher Alltagspraxis wie das maschinelle Melken, die systematisch betriebene und durch die künstliche Besamung grundlegend veränderte Tierzucht sowie die präventiv-medizinische Kontrolle der Herden.

Noch grundlegender als im Bereich der Rinderhaltung veränderten sich Leitvisionen und Praktiken in der Geflügelhaltung. Auch hier entwickelte die Sprache der Quantifizierung eine Dynamik, die tierliche Kreaturen im Lichte von „Veredelungskoeffizienten“ als „Tiermaschinen“ (so der Titel eines 1964 zunächst auf Englisch, 1965 auch auf Deutsch erschienenen Buches von Ruth Harrison) darstellte, die Futtergetreide möglichst rentabel in Eier und Fleisch transformierten. Die Geflügelhaltung wandelte sich von einem meist in der Verantwortung der Bäuerinnen stehenden Nebenerwerbszweig zu einem höchst spezialisierten und kapitalintensiven Produktionsbereich, in dem die Zyklizität der tierlichen Re-Produktion unter anderem dadurch in ein standardisiertes Produktionsarrangement eingepasst wurde, dass den Hennen im Stall mittels Licht- und Temperaturregulierung das ganze Jahr vorgegaukelt wurde, es wäre Frühling. Skalenökonomische Effekte ergaben sich aus der ganzjährigen Stallhaltung, der standardisierten Futterzusammensetzung und der Einsparung menschlicher Arbeitskraft, die mit dem Einpferchen möglichst vieler Hühner forciert wurde – und ähnlich wie die Hühner selbst einem durchgehenden betriebswirtschaftlichen Kalkulieren und Planen unterworfen war.

Der dritte Teil widmet sich am Beispiel der Schweinehaltung schließlich der technischen Umgestaltung der Ställe. Die von den Zeitgenossen aufgenommenen Leitbegriffe der Mechanisierung und Automatisierung zogen neue Raumarrangements nach sich und veränderten die Arbeitsprozesse im Schweinestall, deren wichtigste die Fütterung der Tiere und die Entsorgung ihrer Exkremente waren. Die technische Gestaltung der Stallräume orientierte sich dabei an den einzelnen Produktionsschritten; sie unterschied die Haltung von Sauen zur Nachzucht von der Aufzucht der jungen Ferkel und der Mast. Diese Spezialisierung und räumliche Aufgliederung der Produktionsschritte war zugleich die Voraussetzung, um die Arbeit möglichst mechanisiert und automatisiert durchführen zu können.

Veronika Setteles klug strukturierte Untersuchung, prämiert mit dem Förderpreis Opus Primum der VolkswagenStiftung, zeichnet ein anschauliches Bild von den tiefgreifenden Veränderungen der landwirtschaftlichen Tierhaltung und vom damit zusammenhängenden Wandel der gesellschaftlichen Fleischkonsumgewohnheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Autorin argumentiert eng entlang der empirischen Evidenzen, lässt die Akteure über Quellenzitate ausgiebig zu Wort kommen und rekonstruiert den Wandel in den Ställen mit einem feinen Gespür für die Eigenlogiken der Tiere sowie mit einem scharfen Blick auf die strukturellen Ähnlichkeiten und situativen Unterschiede im deutsch-deutschen Vergleich. So vermag Settele zu zeigen, dass die agrarmodernistischen Bestrebungen zur Industrialisierung der Landwirtschaft in beiden deutschen Teilstaaten zu verblüffenden Konvergenzen in den Ställen führten, ohne dass sie die divergierenden Produktionsregime, die unterschiedlichen Grade politischer Einflussnahme oder die frappanten Unterschiede in der öffentlichen Thematisierung der ökologischen Folgen aus den Augen verlöre.

Die Vorzüge einer solchen Nähe zum Geschehen im Stall und einer praxeologischen Rekonstruktion der Mensch-Tier-Interaktionen drohen indes dort zu einem Schwachpunkt zu werden, wo die Selbstbeschreibung der historischen Akteure die analytischen Begriffe liefert, mit welchen geschichtswissenschaftlich argumentiert wird. So scheint sich die Autorin dem semantischen Sog der Innovations-, Produktivitäts-, Wachstums- und Fortschrittsrhetorik der von ihr untersuchten Experten nicht immer entziehen zu können, etwa wenn sie das Erfahrungswissen von Bäuerinnen und Bauern als „Binsenwahrheit ländlicher Romantik“ oder als „tradierte Halbwahrheiten“ (S. 63, S. 67) mit einer ähnlichen Pauschalität abtut, wie dies die wissenschaftlichen Fütterungsexperten in den 1960er-Jahren taten. So fragt auch Settele kaum nach den sozialen Logiken und ökonomischen Rationalitäten, die diese Praktiken verursachten. Oder man liest mit Erstaunen, dass Geflügelhaltung „bereits in den 1950er Jahren […] eine wirtschaftliche Angelegenheit“ gewesen sei (S. 150). Selbstverständlich war sie das, aber diesen Praktiken der Tierhaltung lagen eben andere subsistenzwirtschaftliche Motivationsstrukturen, familienökonomische Überlegungen und bäuerliche Denkhorizonte zugrunde als jene, die dann in den 1960er-Jahren ausschließlich als „wirtschaftlich“ anerkannt wurden. Es ging in diesem Zusammenhang nicht nur darum, landwirtschaftliche Nutztiere in hochrationalisierte und wissenschaftlich perfektionierte Produktionsregime einzugliedern, in denen sie aufgrund ihrer Lebendigkeit freilich oft Störfaktoren blieben; es ging auch darum, die aufgrund ihrer Einbettung in biotische Ressourcennutzung nach wie vor „sperrige“ Landwirtschaft in die industrielle Wachstumsgesellschaft zu integrieren.

Dass derartige Bestrebungen sich aber an den Eigenlogiken der Tiere und Pflanzen brachen und sich gerade dadurch konkurrierende, konflikthafte Deutungsmuster über Richtung, Sinn und Zweck agrarischer Modernisierung auffächerten und überlagerten, das entgeht der Autorin zuweilen wegen ihres auf fortschrittslogische Überwindung fokussierten Blicks. Dem in der Einleitung mit guten Gründen postulierten Anspruch, die „Orientierungs- und Einbettungsleistung der Kultur für ökonomisches Handeln“ zu berücksichtigen (S. 12), folgt Settele in manchen Passagen leider nicht mit der nötigen Konsequenz. Hier hätte die historische Reflexion und Analyse einige gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten über Landwirtschaft und Tierhaltung noch stärker aufbrechen und scheinbar universelle ökonomische Wahrheiten als kontingente Phänomene sichtbar machen können. Dessen ungeachtet ist Veronika Settele ein sehr wichtiges Buch gelungen, das eine eindringliche Problemgeschichte der Gegenwart liefert und dem insofern nicht nur eine breite geschichtswissenschaftliche, sondern auch eine generelle öffentliche Aufmerksamkeit zu wünschen ist.

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